Aus dem Reiche der Natur.

Erdbeben.

Von Ralph v. Rawitz
in: „Mußestunden.” Wochenbeilage des Leipziger Tageblattes vom 15.09.1905


„Einmal noch mit Kraft geschoben,
Mit den Schultern brav gehoben,
So gelangen wir nach oben,
Wo uns alles weichen muß.”

So läßt Goethe (Faust II.) den Seismos sprechen, die Personifikation der entsetzlichen Naturkraft, die auch jüngst wieder in Kalabrien ihre gigantische Macht erwiesen hat. Städte sind dort zusammengebrochen und Berge geborsten, und wenn die Katastrophe, soweit man sie heute übersehen kann, auch nicht so viele Opfer forderte, wie das Beben von 1783 an derselben Stelle (auf das wir später noch zu sprechen kommen), so irren doch auch diesmal Tausende ohne Obdach und Gut, die teuren Angehörigen beklagend, durch eine verwüstete Landschaft, unter der fürchterlich der Donner grollt.

Prüfen und Vergleichen liegt tief im Charakter der Kulturmenschheit. So fliegt auch jetzt der Blick zurück zu vorausgegangenen Katastrophen, und cs möge gestattet sein, eine kurze Uebersicht historisch-festgestellter Beben und ihrer Folgen zu geben.

Nicht alle Erdbeben werden bemerkt, wenn sie auch die Apparate unsererwissenschaftlichen Institute verzeichnen; andere dagegen prägen sich dem Gedächtnis der Menschheit so tief ein, daß noch nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten die Erinnerung nicht erloschen ist. Hierzu gehört vor allem die Katastrophe von Lissabon, deren 150. Gedenktag demnächst wiederkehrt: damals wurde Portugal so schwer betroffen, wie es in Europa kaum der Fall gewesen war, und das Ereignis wirkte um so entsetzlicher, als es nicht auf flachem, wenig bebautem Lande sich abspielte, sondern mitten in einer der volkreichsten und belebtesten Hauptstädte der Welt.

Es war am Tage Allerheiligen, am 1. November 1755. Das Wetter versprach einen schönen Festtag, wie ihn der lebenslustige Süden so gern genießt; eine freundliche, warme Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. In Feiertagskleider gehüllt wallte die Menge zu den zahlreichen Kirchen der portugiesischen Königsstadt, oder sie scharte sich auf jenem herrlichen Platz am Tajo, von dessen Ufern man weit über den Strom (der hier einem See gleicht) nach dem Maurenschloß Palmella und nach den Höhen von Almada hinüberschaut. Ueberall Frohsinn, Lust und Leben!

Da — es war etwa neun Uhr vormittags — fing die Wasserfläche des Tajo plötzlich an Wellen zu schlagen, und einige kurze, bei dem heiteren Wetter unerklärliche Windstöße machten sich bemerkbar. Leute, die mit den klimatischen Eigentümlichkeiten der Pyrenäenhalbinsel vertraut und die Natur zu beobachten gewöhnt waren, wurden stutzig; aber ehe sie noch ihre Befürchtungen hätten mitteilen können, erfolgte ein furchtbarer Erdstoß. Wie Sandhäuser, die Kinder im Spiel gefügt haben, brachen die Paläste und Kirchen der stolzen Stadt zusammen. Ein Schrei des Entsetzens,der aus hunderttausend Kehlen aufschrillte, wurde sofort durch den Steinregen zusammenbrechender Gewölbe und Decken zum Schweigen gebracht Die festesten Grundmauern barsten, die engen Bergstraßen der höher gelegenen Stadtviertel schoben ihre Hauser ineinander und durcheinander, und wer nicht erschlagen war, der wurde von den Erd- und Schuttmassen erstickt. In den Kirchen,die heute gerade von Hunderten besucht waren, lagen Leichen an Leichen, und was sich noch regen konnte, flüchtete hinaus auf die freien Plätze und vor allem zu jenem aus Marmorquadern gefügten Kai des Tajo.

Nun aber geschah das entsetzlichste: ein Erdschlund klaffte plötzlich auseinander und riß alles, was an dieser Stelle stand, in seine Tiefen: den ganzen Kai mit seinen Denkmalen, mit Tausenden von Menschen, mit dem Strom, auf dem zahlreiche Schiffe lagen. In wenigen Augenblicken war alles verschlungen. — — Man hat später, als die Ruhe in Lissabon wieder hergestellt war, an dieser Stelle genaue Forschungen angestcllt: nichts ist gefunden worden, kein Schiffsrest, keine Leiche, keine Marmorstufc; weit in die Erde war alles hineingeschleudert worden, und eine tiefe Senkung des Flußbettes von zirka 150 Metern (also doppelt so tief als die mittlere Ost- oder Nordsee) kennzeichnet noch heute das Grab des 1. November 1755.

Aber noch war des Schrecken nicht genug. Offenbar hatten die Erdstöße auch unter dem atlantischen Ozean gewirkt, und nun stürmte plötzlich eine ungeheure Woge den Tajo aufwärts vom Meere her zu der Stadt. In wenigen Minuten war Lissabon, soweit es nicht auf Abhängen liegt, überflutet; die Wellen verliefen zwar, kamen aber in bestimmten Pausen wieder. Und dazu folgten weitere starke Stöße; ein gewaltiger um 10 Uhr und ein noch intensiverer um 3 Uhr nachmittags.

Was bisher noch standhaft gewesen, brach in Trümmer: die herrlichen Paläste waren Ruinen, das große, soeben erst erbaute Opernhaus — ein Schutthaufen, die Kirchen Jammerstätten, unter denen Zehntausende zerschmettert lagen. Dazu brach — wie es wohl erklärlich — an verschiedenen Teilen der Stadt Feuer aus, und als die Nacht sich über diese Trümmerwüste herabsenkte, da loderte ihr ein Feuermeer entgegen.

Alle Bande der Scheu und des Gehorsams waren tagelang zersprengt. König Joseph I., der mit den Seinen in einer Kutsche entfloh, wurde auf offener Straße von den Kutschern und Bedienten verlassen, welche die Pferde ausspanntcn und das Weite suchten. Eine Räuberbande drang in den Königspalast und raubte die Kronjuwelen. — Es gab aber auch Leute, die nicht den Kopf verloren, und zu ihnen gehörte der hochherzige Staatsmann Pomdal, der auf die Frage des Königs, was nun zu tun sei, die schlichte Antwort fand: „Sire, die Toten begraben und für die Lebenden sorgen.”

Die Zahl der Toten des 1. November 1755 wird verschieden beziffert, sie schwankt zwischen 25 und 100 Tausenden; der materielle Schaden soll sich auf eine Viertelmilliarde Mark belaufen haben.

Fast in ganz Europa spürte man mehr oder minder die Lissabonner Katastrophe. Für uns Deutsche ist besonders von Interesse, daß die Teplitzer Quelle plötzlich versagte, und dann plötzlich überaus stark, blutrot gefärbt, wiederkehrte, und daß die See an den Gestaden Schleswig-Holsteins (ebenso wie eine Zahl von Binnenlandseen) trotz guten Wetters in stürmische Aufregung geriet.

Natürlich empörte sich auch der Vater Vesuvius an diesem Tage, und zwar zu derselben Stunde, da in Lissabon der erste Stoß erfolgte. Auch in Skandinavien, England und Irland wurden,allerdings wesentlich abgeschwächt, die Wirkungen des Stoßes empfunden, und die Flutwelle, derer oben gedacht wurde, machte sich sogar an den Küsten Amerikas bemerkbar, obwohl sie 5000 Kilometer zurückzulegen hatte.

Von merkwürdigen Ereignissen dieses schrecklichen 1. Novembers sei noch erwähnt, daß in Lissabon, als alle Bande frommer Scheu gelöst waren, eine Räuberbande die Königliche Münze heimsuchen wollte. Dank der Energie eines Korporals, der dort die Wache hatte, wurde der Anschlag vereitelt. Der König belohnte später diese Pflichttreue mit der Verleihung des Adels und einem Geschenk von einer Viertelmillion Mark.

Dieses Erdbeben vor 150 Jahren, von dem Lissabon sich lange Jahre nicht erholen konnte, ist wohl das bekannteste, eben weil es eine Großstadt betraf, und sich in Europa abspielte. An Schrecklichkeit gibt es aber viele Beben, die ihm zur Seite gestellt werden können. Es würde den Rahmen dieser Skizze bei weitem überschreiten, wollten wir auch nur die größten Katastrophen beschreiben; wir wollen aber die eigenartigen Merkmale hcrvorbeben,die hier und da zutage getreten sind.

Im Jahre 1783 litt die italienische Provinz Kalabrien, also derselbe Landstrich, der heute von dem entsetzlichen Unglück betroffen ist, und der wohl für Beben besonders disponiert sein muß, unter furchtbaren Erdstößen. Damals wie heute (soweit ein Urteil schon möglich ist) war das Charakteristikum der Katastrophe eine völlige Umgestaltung der Landschaft. Wo vorher Berge gewesen, war nun Tal, und umgekehrt; Landgüter waren so ineinander und übereinander geschoben, daß eine neue Gesetzgebung die Besitzverhältnisse regeln mußte. Die Flüsse mußten sich neue Straßen zum Meere bahnen. Ortschaften, die auf felsiger Höhe lagen, brachen auseinander, so daß die eine Hälfte hier, die andere dort ins Tal stürzte. Ueber 30 000 Menschen verloren das Leben, und der Schaden war nicht mit Sicherheit festznstellen.

Eine furchtbare Katastrophe, die uns Humboldt schildert, betraf am Gründonnerstag — 26. März 1812 — die südamerikanische Stadt Caracas. Aehnlich wie in Lissabon rüstete sich die Bevölkerung zum Kirchgang, als einige kurz einander folgende Stöße 10 000 Menschen, darunter ein ganzes Regiment Soldaten, töteten. Die ganze Natur gerät bei solchen Ereignissen in Aufruhr: Humboldt erzählt, daß selbst die Krokodile entsetzt das Flußbett des Orinoco verlassen hätten und in den Wald geflüchtet seien.

Drei gewaltige Beben, die vor allem durch die empörte See Unglück anstifteten, sind das von Concepcion in Chile 1835, Nipon(Japan) 1854 und Arica in Peru 1868. In allen drei Fällen brach eine riesige Welle, deren Höhe etwa auf 20 Meter angegeben wird (also wie ein vierstöckiges Haus), über die Hafenstädte, überflutete sie bis weit jenseits des Ortes ins Land hinein und riß, mehrfach wiederkehrend, Gebäude, Schiffe, Mensch und Tier in die Tiefe des Meeres.

Bei manchen Erschütterungen sind Gas-Ausströmungen bemerkt worden, die sich sogar entzündeten. So in Lissabon 1755, Kumano 1797. — Grabenartige weite Erdspalten hinterließ das Erdbeben in Phokis (Hellas) 1870, Schomachu (Kleinasien) 1902 und das Erdbeben in Indien im Frühjahr dieses Jahres.

Die Dauer der Beben ist sehr verschieden: hier (wie in Lissabon) richten wenige Stöße Unheil an, dort (wie in Phokis) gibt es ganze Erdbeben-Perioden von mehreren Jahren, die Hunderttausende leichtere und ernstere Stöße aufweisen (Phokis 1870 bis 1874).

Von geschichtlichen Beben seien endlich zwei an dieser Stelle aufgeführt. Die hellenische Stadt Boura wurde, wie der Historiker Pausanias berichtet, im Jahre 373 von der Erde verschlungen, und von Sodom und Gomorrha erzählt 1. Moses 19,25 charakteristisch: „Und da kehrte Gott die Städte um, und die ganze Gegend, und alle Einwohner der Städte, und was auf dem Lande gewachsen war.”

Zum Schluß sei darauf hingewiesen, daß Erdbeben und Vulkanausbrüche durchaus nicht immer in Zusammenhang stehen. Es sind unter Umständen Hand in Hand wirkende Giganten, zu-weilen aber auch einander ausgleichende Kräfte. Humboldt hat die Vulkane „Sicher­heits­ventile” der Erde genannt, die im großen und ganzen wohltätig wirken, wenn die nächste Umgebung unter ihren Ausbrüchen auch öfters zu leiden hat. Im neuesten Fall haben sie sich als solche freilich nicht erwiesen, denn sowohl der kürzlich erfolgte Stromboli-Ausbruch wie die noch andauernden Vesuv-Eruptionen haben Kalabrien nicht vor seinem traurigen Schicksal zu bewahren vermocht.

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Eine ergreifende Schilderung der calabresischen Erdbebenkatastrophe bringt der Mailänder „Corriere della Sera” aus der Feder eines Bürgers von Parghella, der auf wunderbare Weise gerettet worden ist: „Wir waren”, so schreibt der Mann, „seit etwa zehn Tsgen in Aufregung wegen des unterirdischen Getöses des Stromboli, das sich immer stärker hören ließ. Nach und nach hatten wir uns aber beruhigt, und in der Nacht der Katastrophe dachten wir nicht daran, daß irgend etwas Schlimmes passieren könnte. In der Stadt waren nur wenig Leute zurückgeblieben, da fast die Hälfte der Bevölkerung wegen der Feigenernte, die in dieser Jahreszeit stattfindet, aufs Land gegangen war. Es waren dafür aber aus der Umgegend Leute in die Stadt gekommen, da in diesen Tagen der große Jahrmarkt stattfinden sollte. Meine Frau und ich waren gegen IO½ Uhr in dem kleinen Häuschen, das unser Eigentum war, zur Ruhe gegangen. Die Nacht war außerordentlich warm, und wir mußten wegen der überall aufsteigenden Schwefeldünste die Fenster offen halten. Gegen 2 Uhr nachts wachte ich plötzlich auf; es war mir als ob mir ein schwerer Gegenstand die Brust zusammenpreßte. Ich schrieb meine Unruhe der unerträglichen Hitze zu und suchte wieder einzuschlafen; es schien mir zwar, als ob ein Bild des heiligen Francesco, das sich am Fußende meines Bettes befand, hin und her schwankte, aber ich maß der Sache keine Bedeutung bei. Ich lag schon wieder im Halbschlummer, als ein Krachen wie von tausend zu gleicher Zeit hereinbrechenden Donnern mich aus dem Bette warf, während ein Regen von Wandkalk mir den Mund verstopfte und die Augen verschloß. Noch sehe ich die in der Mitte glatt auseinander gerissene Wand vor mir; sie wankte ein wenig und brach dann, ein Stück der Decke mit sich reißend, mit Gepolter zusammen. Meine Frau lag zwischen den Trümmcrn des Bettes und eines schweren Tisches und schrie und krümmte sich vor Schmerz und Angst. Wie ich die Treppe erreichen konnte, wie ich fortwährend von den nachstürzenden Mauertrümmern bedroht, schließlich in den Garten gelangte, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich zitternd und frierend in meinem Nachthemd unter einem Baume lag und bei jedem neuen Erdstoß vor Aufregung zu beben begann. Ich zählte 27 Stöße und hielt mir die Ohren zu, um nicht das Verzweiflungsgeschrei der sterbenden Frauen und das Jammern der von ihren Müttern verlassenen Kinder zu hören. Ich hatte nur einen Gedanken: rasch zum Bahnhof. Ich schritt über Trümmerhaufen hinweg, aus denen hier und da sich hülfeflehend ein Arm emvorstreckte; formlose Reste von Möbeln und Hausgerät lagen zwischen den Steinen, die von allen Seiten — vor mir, hinter mir, zu meinen Seiten — herniedersausten; ich wurde von einem Strom von halbnackten, zerzausten Männern und Frauen, die sich gegenseitig buchstäblich mit Füßen traten, mit fortgerissen. Jammern und Wehklagen erfüllte die Luft. Bei jedem Schritt fiel einer zu Boden, um nicht wieder aufzustehen, denn die Nachstürmenden zertrampelten ihn wie Gras. Hin und wieder verschwand eine ganze Gruppe unter einer plötzlich einstürzenden Mauer; die Menge blieb dann einen Augenblick stehen, nahm aber die „Jagd nach Rettung”, die man irgendwo auf freiem Felde zu finden hoffte, bald wieder auf. Aus dem Bahnhof war das Schauspiel noch grausiger. Die Leichen, die die Soldaten aus den Trümmerhaufen hervorgeholt hatten, lagen in Reih' und Glied an den Schienen. Fast alle waren nackt oder nur mit dem Hemde bedeckt; die meisten von ihnen waren Greise oder Kinder. Da lagen sie in den schrecklichsten Stellungen: einige zusammengekrümmt wie schlafende Hündchen, andere mit steif, zum Himmel gestreckten Armen und offenen Fingern, wieder andere mit zerschmettertem Schädel und um den Kopf gelegten Händen. Und auf das grausige Leichenfeld warfen die Windfackeln ein gespenstisches Licht . . .”

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